Ein Zeitzeugenbericht von Emmi Beck

„Sehr ruhig
Abseits vom Verkehr
Und doch zentral gelegen“

So steht es auf der Visitenkarte und ist richtig.

Linden vermute ich und suche sie bei meinem Ankommen. Aber in der kurzen Straße so nah dem Zentrum, sehe ich keine Spur von dem vielfach besungenen deutschen Baum …

Eine mächtige Zeder verbirgt das Haus hinter sich und macht es mir geheimnisvoll. An der Tür hängt ein Zettel: “Komme gleich wieder“, in unverkennbarer, geübter Sütterlinschreibweise. Und das zur verabredeten Ankunftszeit!
Endlich stehe ich im kühlen dämmrigen Entrée der Urheberin der verspäteten Begrüßung gegenüber. Ich ordnete sie den Jahrgängen zu, die 1920 umspielen.

„Harms“ stellt sich die gepflegte Erscheinung im strengen Tonfall des Nordens vor. Wie eine Skulptur, grau in grau gemeißelt, durchfährt es mich. Mein Blick gleitet durch eine geöffnete Tür in ein düsteres Büro. Kein Fleck auf dem Schreibtisch ist frei, überall aufgestapelt Hefte, Prospekte und Bücher. Ein uralter, weißer Telefonapparat thront mitten im Chaos. Ich fühle mich wie im Film, noch mehr: bin mitten in der Handlung eines gelesenen Romans.

Frau Harms scheint meine Gedanken zu lesen und beginnt, ganz ungewohnt für die Kühlen aus dem Norden, die Geschichte des Hauses zu erzählen:
Ein ehemaliger Schiffsingenieur, nämlich Herr Vosteen, unser „Käpt’n“ mit Ehefrau Sophie Vosteen, machte sich nach dem ersten Weltkrieg von Buchholz nach Nürnberg auf. Nicht mehr bei der Marine, sondern durch das Betreiben einer Pension, wollte er fortan seinen Lebensunterhalt verdienen. Zunächst stand das Gästehaus in der Wielandstraße. Nach dem Krieg eröffnete Sophie Vosteen 1954 die „altbekannte Pension im neuen Haus“ in der Lindenaststraße.
„Als Nichte des Ehepaares helfe ich nun schon seit dreißig Jahren bei der Arbeit und führe die Pension inzwischen selbstständig“, meint sie verschmitzt lächelnd. Da ist verhaltener Stolz in ihrer Stimme …

Eins möchte ich noch wissen. Warum heißt die Straße „Lindenast“, wo doch weit und breit keine Linden zu finden sind. Frau Harms schüttelt den Kopf: „Das weiß ich auch nicht, leider.“
Sie reichte mir den Zimmerschlüssel …

Im Einschlummern nehme ich die wogenden Zedernäste auf Tapete und Bettdecke wahr. Sie laufen auf und nieder, als gleite ich auf Schattenwellen dahin.

Im Aufwachen mustere ich mein Zimmer. Räume die Sachen in die seidenmatt lackierten, weißen Einbauwände, lege das Buch auf den Nachttisch, kontrolliere die Wattzahl in der Leselampe, lasse beim Spühlstein warmes und kaltes Wasser über Arme und Gesicht laufen und schlüpfe in bequeme Sandalen. Es drängt mich in die fremde Stadt …

Es ist sieben Uhr in der Früh. Duft von aufgebrühtem Kaffee kriecht unter der Tür in mein Zimmer. Mein Magen knurrt in freudiger Erwartung frischer Brötchen. Nach dem Eintritt durch die schwere Portière stehe ich nun im sonnendurchfluteten Frühstücksraum. Ich muß blinzeln, so sehr blendet mich das Licht. Eine Fensterfront gibt den Blick frei, auf ein großes, naturbelassenes Gartengrundstück. Spontan will ich von der Terrasse in den Garten gehen, der sich märchenhaft vor mir ausbreitet. Hier könnte Dornröschen mit ihrer Spindel eingeschlafen sein und auf ihren Prinzen warten …

Ein Blick über die Balustrade und ich sehe Leinen mit weißer Bett- und Tischwäsche behängt. Hier und da flattert ein buntes Handtuch als Farbtupfer.

Im Frühstückszimmer suche ich an einem der streng angeordneten Tischgruppen nach einem Platz, von dem aus ich in den Garten sehen und gleichzeitig das Geschehen im Raum beobachten kann. Die Frühaufsteher, Montagearbeiter, Seminarteilnehmer und Vertreter haben ihre Spuren schon hinterlassen. Von einem Tisch klingt internationales Stimmengewirr herüber. Einen Augenblick gönne ich mir, das Gesamtbild des Raumes aufzunehmen. Eingedeckt ist „Maria weiß“ von Rosenthal. Silbernes Besteck blinkt auf weißer Tischwäsche. Jedes Tuch mit wunderbarer Weißstickerei ist eine Kostbarkeit …

Nehme ich einen Buchenstuhl mit oder ohne Seitenstütze? Alle haben Rohrgeflecht in der Rückenlehne und einen grünen Polstersitz. In einer Ecke entdecke ich eine gemütliche Sesselgruppe mit lindgrünem Stichelmohär. Sicherlich ist sie für abendliche Plauder- oder Lesestunden gedacht, denn auf dem Tisch davor liegen neue Tageszeitungen aus.

Erst jetzt bemerke ich, daß die Möbel auf einem raumgreifenden echten Teppich stehen, dessen Laufflächen schon fragmentarisch, aber noch nicht Unfall gefährdend sind. Ich wähle einen Stuhl ohne Armlehne. Er ist altmodisch aber ich sitze bequemer als auf einem dieser modernen Designerstücke. Er hat genau die richtige Sitzhöhe für meine Beine …

Im Gegensatz zu üblichen Frühstücksbuffets wird alles frisch zubereitet und vorgelegt: Das Ei ist tatsächlich weich gekocht und, wie könnte es anders sein, weiß.

Da sich die Wirtschaftsräume im Souterrain befinden, werden die Tabletts mit Hilfe eines Aufzuges Transportiert. Zwei weiß lackierte Holzkisten sind einfach übereinander und an einem Schiffstau montiert. Rumpelnd befördert er seine Fracht. Er ist nicht nur für Kinder eine Attraktion.

Zu meiner Freude gesellen sich andere Gäste an den Tisch und es entwickelt sich ein langes fröhliches Frühstücken, bis jeder zu seinen Tagesaktivitäten ausschwirrt. Diese zufällige Runde sollte bis zu meiner Abreise zusammen bleiben.

Außer der Klavierlehrerin aus Hamburg finde ich den farbigen G.I. am interessantesten. Er ist auf Deutschlandtour und besucht ehemalige Dienstorte und verflossene, aber offenbar nicht vergessene Liebschaften. Wir dürfen nur deutsch mit ihm reden. „Baby“ nennt er mich, wenn er etwas Besonderes zu sagen hat.

Beim Gehen zieht er das rechte Bein nach. „Vietnam“, sagte er trocken, „hab mal ein Jahr im Rollstuhl gesessen. „Sei nicht so ernst, Baby. Mir geht es gut“. Wir tauschen die Erlebnisse des Vortages aus und schmieden Pläne für neue Ziele. Unsere gute Stimmung überträgt sich auf die anderen Gäste. Frau Harms ist sehr zufrieden mit uns.

Heute sind die zu „späten Gäste“ der Hauptgesprächsstoff beim Frühstück. Das ganze Haus hatte die höfliche, aber bestimmte Ablehnung von Frau Harms um Mitternacht gehört. „Wer bis 22:00 Uhr kein Lager gefunden hat, mit dem stimmt etwas nicht“, hat der Kapitän immer gesagt. Also für alle Zeiten „Nein.“

Am letzten Tag bleibt mir Zeit, endlich die Bilder an den Wänden anzusehen. Ich staune nicht schlecht. Als kleine Kostbarkeiten entpuppen sich die vergilbten Blätter, Originalskizzen der Bühnenbilder in Fidelio und Othello, aufgeführt 1947, angefertigt von einer Berliner Malerin.

Ich gestehe es ein, der Abschied fällt mir schwer. Aber es muß geschieden werden. Wohlgefühlt habe ich mich im „Haus Vosteen“, diesem Hotel – Garni in der Lindenaststraße. Es strahlt eine Atmosphäre aus, die kaum zu beschreiben ist. Man muß dort gewohnt haben.

Zum Schluß lüfte ich Frau Harms das Geheimnis des Straßennamens: Mir ist nämlich Herr Lindenast in der Stadt begegnet.
Schlag Zwölf Uhr treten an der Westfassade der Frauenkirche die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg, als Figuren einer Kunstuhr zum Männleinlaufen heraus, um dem Kaiser zu huldigen. 1509 hatte Sebastian Lindenast die Figuren in Kupfer getrieben, die heute durch Holzfiguren ersetzt sind.“

Heute …
Im Mai 2005 hat Christina Summerer aus dem Privathotel Klughardt stammend, das „Haus Vosteen“ gekauft, kernsaniert und die originalen Möbel von 1954 restaurieren lassen.

Nach 6 Monaten Umbauphasen, nach vielen Auf und Abs, gab es endlich im Januar 2006 eine große Wiedereröffnungsfeier mit mehr als 200 Gästen, begleitet von dem Kunstprojekt „Petersilienhaus“ von Berit Klasing.